Die Landeszentrale für politische Bildung des Landes Baden-Württemberg will auch Grundschüler über Grundrechte informieren und hat dazu eine Grundrechte-Fibel vorgelegt, in der zwei Comic-Figuren (ein Dachs und ein Rabe) die Grundrechte erläutern, um „Grundschulkinder an die Inhalte und die Bedeutung unserer Grundrechte heranzuführen“. Das ist zunächst einmal eine gute Idee. Auch muss die Vermittlung von Wissen über Grundrechte hier mit Blick auf die Zielgruppe auf Kosten der Genauigkeit gehen. Vereinfachungen und Vergröberungen sind der Preis der Verständlichkeit, so dass es sich verbieten dürfte, die grundrechtsdogmatische Lupe zu polieren um auf dieser Grundlage zur Textkritik zu schreiten. So mag man darüber hinwegsehen, dass es in der Einleitung heißt, „der deutsche Staat“ – gemeint ist hier allein der westdeutsche Staat“ – sei nach dem zweiten Weltkrieg „neu gegründet“ (statt: neu organisiert) worden (S. 13).
Gleichwohl gibt die Broschüre auch Anlass
zu kritischen Fragen. Im lawblog wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass
die Passagen zu Art. 8 GG die unzutreffende Behauptung enthalten, wer für oder gegen
etwas protestieren wolle, müssen dies vorher beim Rathaus anmelden
und genehmigen lassen, und das mache auch Sinn, denn „wenn viele Menschen an
einer Demonstration teilnehmen, muss die Polizei vorher die Straße sperren,
damit keine Unfälle passieren“ (S. 52).
Dieser grobe Schnitzer ist aber noch
steigerungsfähig: So wird die Versammlungsfreiheit sodann in einer Sprechblase dahin
erläutert, das Versammeln werde den Menschen durch die Versammlungsfreiheit „ausdrücklich
erlaubt“. Auch
das ist grob falsch: Das Durchführen von Versammlungen ist kein Verhalten, dass
verboten wäre, wenn man den Grundrechtsschutz aus Art. 8 hinwegdenkt. Vielmehr
handelt es sich um ein den Menschen kraft ihrer (natürlichen) Handlungsfreiheit
grundsätzlich mögliches Verhalten, dass zunächst keiner Erlaubnis bedarf. Ein von
einer Grundrechtsnorm erfasstes Verhalten wird durch das Grundrecht nicht erlaubt, das Grundrecht als Abwehrrecht statuiert
vielmehr Anforderungen an die Rechtfertigung von Einschränkungen der
grundrechtlich geschützten Freiheit – Grundrechte sind keine Erlaubnisnormen.
Dieser Punkt ist für das Verständnis der Grundrechte
entscheidend und deshalb mehr als Wortgeklingel, denn das Verständnis der
Grundrechte als Erlaubnsnormen basiert auf der obrigkeitsstattlichen Prämisse,
jedes nicht ausdrücklich (durch Grundrechte oder anderweitig) erlaubte
Verhalten sei prima facie verboten. Er illustriert damit das zentrale Problem
der Grundrechtefibel: Diese ist getragen von einem reaktionären Paternalismus, in der einer Verpflichtung des Staates zur Respektierung grundrechtlich
gewährleisteter Rechtsgüter und Freiräume nur am Rande vorkommt. So wird
beispielsweise Art. 3 GG dahin erläutert, dass der Gleichheitssatz der Polizei verbiete,
bei Verkehrsverstößen ein „Auge zuzudrücken“. Dieses Beispiel betrifft nicht
nur kein Gleichheitsproblem (sondern einen Fall des Art. 20 GG), es zeigt
zugleich, dass ein Beispiel für ein Recht des Bürgers auf Gleichbehandlung offenbar
außerhalb der Vorstellungswelt der Autoren lag. Die Reihe der Beispiele ließe sich
fortsetzen…
Über die Gründe für die
vielfältigen Fehl- und Missgriffe lässt sich nur spekulieren. Immerhin fällt
auf, dass die Grundrechtefibel offenbar vo 4 Jahren von dem damaligen niedersächsischen CDU-Innenminister
Schünemann „in Zusammenarbeit mit Baden-Württemberg“ als Präventionsprojekt desVerfassungsschutzes gegen extremistische Bestrebungen initiiert worden ist. Die
Darstellung der Verfassung ausgerechnet dem Verfassungsschutz zu überlassen –
das konnte offenbar nur schiefgehen.