Zu den vornehmsten Aufgaben der
Verfassungsgerichtsbarkeit gehört es, dafür Sorge zu tragen, dass
parlamentarische Mehrheiten ihre Gestaltungsmöglichkeiten nicht in der Weise missbrauchen,
dass sie sich durch Regelungen namentlich bei der Ausgestaltung des Wahlrechts
eine „Prämie auf die Macht“ verschaffen. Es liegt nahe, dass die Wahrnehmung
dieser Funktion bei politischen Entscheidungsträgern nicht immer auf uneingeschränkten
Beifall trifft. Namentlich Politiker aus dem konservativen Lager haben sich hier
in der Vergangenheit mit wenig sach- und rechtskundiger Kritik am Bundesverfassungsgericht
hervorgetan. Die Art und Weise, in der Bundestagspräsident Lammert (CDU) nunmehr versucht hat, den Missbrauch politischer Gestaltungsmacht der Kontrolle durch das Verfassungsgericht zu entziehen, ist allerdings von bislang noch nicht
dagewesener Dreistigkeit: Durch eine Grundgesetzänderung soll
verfassungswidriges Treiben von Mehrheiten der verfassungsgerichtlichen
Kontrolle entzogen werden. Dabei wendet sich Lammert insbesondere gegen die
Verhinderung von Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht, deren Abschaffung „ruinöse
Folgen“ für die Entscheidungsfindung auf kommunaler Ebene habe. Das
Verfassungsgericht solle nicht in den „Spielraum des Gesetzgebers“ eingreifen.
Diese Behauptungen sind grotesker Unfug: Da das Kommunalwahlrecht
grundsätzlich Ländersache ist, ist zunächst die Gerichtsbarkeit der Länder aufgerufen,
kommunalwahlrechtliche Vorschriften am Maßstab des Landes- und
Bundesverfassungsrechts – namentlich dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit –
zu messen. Es existiert mittlerweile auch eine Reihe von Entscheidungen zum
Kommunalwahlrecht, mit denen verschiedene Gerichte zu Sperrklauseln Stellung genommen
haben. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu allein durch eine Entscheidung
zum Kommunalwahlrecht in Schleswig-Holstein aus dem Jahre 2008 beigetragen (2
BvK 1/07 = BVerfGE 120, 82), die dadurch möglich wurde, dass es seinerzeit in
Schleswig-Holstein noch an einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit fehlte. In dieser Entscheidung hebt das Bundesverfassungsgericht
aus gegebenem Anlass erneut hervor, dass der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit
„im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen“ sei (Rn. 96). Dem
Gesetzgeber bleibe daher nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen“
(Rn. 108). Eine „strenge Prüfung“ sei auch deshalb erforderlich, „weil mit
Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die
jeweilige parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird“
(Rn. 104).
Auf dieser Grundlage finden sich zwei Erwägungen,
die für die Entscheidung tragend sind: Die Rechtfertigung von Sperrklauseln im
Parlamentsrecht mit dem Erfordernis einer Bildung stabiler Regierungen ist
nicht auf das Kommunalrecht übertragbar, weil kommunale Vertretungen keine
Parlamente sind und keine Kreationsfunktion für ein der Regierung
vergleichbares Gremium haben (Rn. 123). Auch im Übrigen rechtfertigt der Gesichtspunkt
der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen keine Sperrklausel, weil – wie im
Einzelnen ausführlich dargelegt wird – durch den Einzug kleinerer Parteien oder
Wählergruppen eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit weder zu befürchten
noch bislang empirisch feststellbar sei. Insoweit bleibt es dabei: Die
Entscheidung, welche Partei oder Wählergemeinschaft die Interessen der Bürger
am besten vertritt, obliegt nicht dem Wahlgesetzgeber, sondern dem Wähler (Rn.
119). Auch andere Gerichte haben den Einwand der Funktionsbeeinträchtigung als
unplausibel zurückgewiesen (vgl. z.B. VerfGH NW, Urt. v. 16.12.2008 – VerfGH 12/08,
Rn. 69 ff.).
Dies alles kann und muss der Bundestagspräsident wissen.
Gleichwohl findet er es richtig, der Wahrheit zuwider „ruinöse Folgen“ für die Funktionsfähigkeit
kommunaler Körperschaften zu postulieren und auf dieser Grundlage (allein) das
Bundesverfassungsgericht anzugreifen. Das dahinterstehende Ziel ist
offensichtlich: Namentlich kleinere Parteien und Wählergruppen sollen aus den
Kommunalparlamenten herausgehalten werden. Für große Parteien hat dies zwei Vorteile:
Je weniger Parteien an der Sitzverteilung teilnehmen, umso mehr Sitze entfallen
auf Parteien, die die Sperrklausel überwunden haben, und umso weniger Stimmen
sind für eigene Mehrheiten erforderlich. Ersichtlich geht es dem Bundestagspräsidenten
gerade darum, die „Prämie um die Macht“ ohne Störungen durch die Verfassungsgerichtsbarkeit
zur Auszahlung bringen zu können. Dass den für kleinere Parteien abgegebenen
Stimmen dann keinerlei Erfolgswert zukommt und diese Verzerrung des
Wahlergebnisses dem formalen Charakter des Wahlrechts und damit Grundgedanken
einer demokratischen Ordnung widerspricht, interessiert dabei offenbar nicht.
Letztlich wird das offensichtliche Ziel verfolgt, kleinere Parteien aus den
kommunalen Vertretungen herauszuhalten. Wieder einmal zeigt sich, dass die
größten Gefahren für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht von außen drohen,
sondern von denen ausgehen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen.