Die Entscheidung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 13. Mai 2015 (4 Bf 226/12), der zufolge die
Regelung über die Einrichtung sog. Gefahrengebiete und damit die Ermächtigung zur
anlasslosen Kontrolle von Personen verfassungswidrig sei, liest sich wie eine
Höchststrafe für den Gesetzgeber: Zu unbestimmt sei die Regelung (S. 13 ff.),
und zudem unverhältnismäßig (S. 21 ff.), sie verstoße gegen das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung. Allerdings enthält die Entscheidung einige Punkte, die schon
bei erster Lektüre stutzen lassen: Ohne dass an dieser Stelle eine ausführliche
und detaillierte Auseinandersetzung mit den Gründen erfolgen könnte, seien
daher zwei Anmerkungen gemacht:
1. Die Entscheidung besteht aus zwei Teilen. Zum einen
setzt sich das OVG im ersten Teil gleichsam „abstrakt“ mit der
Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsnorm (§ 4 Abs. 2 HmbPolDVG a.F) auseinander,
zum anderen wird die Verhältnismäßigkeit der konkret in Rede stehenden Maßnahme
anschließend verneint.
Bei dem ersten Teil der Entscheidung, die den größeren
Teil der Gründe ausmacht, handelt es sich der Sache nach indes um ein
umfangreiches obiter dictum, mit dem das Gericht nach eigenem Bekunden (S. 10) einem
Wunsch der Parteien entsprochen hat. Entscheidende Bedeutung für das Ergebnis
kommt den Ausführungen nicht zu, wie das Gericht selbst einräumt, da unabhängig
von der Verfassungsmäßigkeit der zur Anordnung von Gefahrengebieten ermächtigenden
Norm nach Auffassung des Gerichts die Personenkontrolle im konkreten Fall rechtswidrig gewesen
ist (S. 29 ff.). Folgt man diesem Ansatz, so ist aber festzustellen, dass das
Gericht auf Wunsch der Parteien ein umfangreiches Rechtgutachten erstattet hat,
dem weder Entscheidungserheblichkeit noch weitergehende Verbindlichkeit
zukommt: Wäre die Frage der Verfassungsmäßigkeit entscheidungserheblich
gewesen, hätte die betreffende Norm dem Bundes- oder Landesverfassungsgericht vorgelegt
werden müssen (Art. 64 Abs. 2 HambVerf., Art. 100 GG). Dies hat das OVG aber
ausdrücklich nicht getan, weil es nach dessen Auffassung auf die
Verfassungsmäßigkeit der zur Einrichtung von Gefahrenzonen ermächtigenden Norm
gar nicht ankam.
Wenn dem so ist, hätte sich das Gericht aber darauf
beschränken müssen, die Unzulässigkeit der Kontrollmaßnahmen im Einzelfall
festzustellen. Gerichte haben Rechtsschutz zu gewähren, nicht aber Gutachten zu
erstellen. Es ist auch nicht Aufgabe von Gerichten, durch unverbindliche
Rechtsansichten zur Verfassungsmäßigkeit von Normen den Gesetzgeber in die
Bredouille zu bringen: Zwar gehen unmittelbare Rechtswirkungen für die
Gültigkeit einer Norm von einer solchen Entscheidung nicht aus; auch muss sich der
Gesetzgeber die unverbindliche Rechtsmeinung eines Gerichtes nicht zu Eigen
machen. Dass Verdikt der Verfassungswidrigkeit einer Norm wird von der
Öffentlichkeit aber gleichwohl als sachverständiges Votum aufgenommen werden.
Im Grunde handelt es sich bei der Entscheidung des OVG daher um eine Kompetenzüberschreitung:
Art. 64 HambVerf enthält eine klare Regelung, der zufolge eine gesetzliche
Vorschrift bei einer Entscheidung „als verbindlich anzusehen“ ist (Abs. 1), sofern
eine Norm nicht dem Verfassungsgericht vorgelegt wird, weil das Gericht sie für
verfassungswidrig erachtet und (!) es für die Entscheidung auf die betreffende
Vorschrift ankommt (Abs. 2). Hierüber hat sich das OVG mit kühnem Schwung hinweggesetzt.
2. Die Verfassungswidrigkeit im Einzelfall begründet
das OVG sodann – nach einer wenig überzeugenden Unterscheidung zwischen
Inaugenscheinnahme und Durchsuchung – u.a. damit, dass die „Auswahl der
Klägerin“ für eine Kontrollmaßnahme ermessensfehlerhaft gewesen sei (S. 30). Ausgangspunkt
der Erwägungen ist Art. 3 Abs. 1 GG, in deren Rahmen das OVG nicht nur einen
Verstoß gegen das Willkürverbot erörtert, sondern aufgrund der Grundrechtsrelevanz
des Sachverhalts unter impliziter Anlehnung an die sog. „neue Formel“ eine
Verhältnismäßigkeitsprüfung vornimmt (S. 32). In diesem Rahmen sieht das OVG
eine Kontrolle aufgrund einer am Erscheinungsbild der Klägerin orientierten Zuordnung
zum „linken Spektrum“ zu Recht als ungeeignet an. Dies wird sodann aber – im
Grunde unabhängig von der Zuordnung einer bestimmten Person zu einer wie auch
immer definierten „Zielgruppe“ – damit begründet, dass mit Hilfe einer
Identitätsfeststellung bzw. Personenkontrolle weder eine abstrakte Gefahr
verhindert noch eine konkrete Gefahr abgewehrt werden könne. Es sei generell
(!) fernliegend, dass eine Person, die sich an Ausschreitungen beteiligen wolle,
hiervon allein schon deswegen Abstand nehmen werde, weil sie aufgrund ihrer
äußeren Erscheinung einer Personenkontrolle unterzogen wurde. Die Annahme des
Gesetzgebers, die Aufhebung der Anonymität des potentiellen Störers könne zum
Verzicht auf bestimmte Aktivitäten führen, sei nicht weiter belegt (S.33).
Im Grunde gibt der Senat an dieser Stelle zu erkennen,
dass er durchschaut hat, worum es bei den anlasslosen Kontrollen aufgrund der
Einrichtung eines Gefahrengebietes tatsächlich geht: Nämlich die
Stigmatisierung und Einschüchterung von Personen, die ihre grundrechtlich
geschützte Freiheit durch Beteiligung an Demonstrationen in Anspruch nehmen
wollen. Dieses Ziel wird indes nicht benannt und deshalb auch nicht – was naheliegend
gewesen wäre – als legitimer Gesetzeszweck verworfen. Vielmehr verneint der
Senat die Geeignetheit, indem mit der Unterstellung operiert wird, dass sich
niemand durch eine Personenkontrolle davon abhalten lassen werde „zu einem
späteren Zeitpunkt im Schutz der Dunkelheit in der Anonymität der Masse
Straftaten zu begehen, die ihm als (im Vorwege kontrollierter) Person gar nicht
ohne Weiteres zugeordnet werden können“ (S. 33 f.). Die Möglichkeit der
Strafverfolgung im Falle der Beteiligung an Ausschreitungen hänge nicht von
einer vorangegangenen Identitätsfeststellung, sondern von der Identifizierbarkeit
der betreffenden Person ab. Das ist auch sicher richtig: Kaum ein gewaltbereiter
Demonstrant wird sich von der Teilnahme an Ausschreitungen allein deshalb
abhalten lassen, weil er auf dem Weg zur Demonstration kontrolliert wurde.
Zugleich verfehlt aber dieser Ansatz das Problem, das darin liegt, dass die
martialisch auftretende Staatsmacht gegenüber unbescholtenen Bürgern
abschreckende Wirkungen in Bezug auf die Teilnahme an Demonstrationen oder
sonstigen Veranstaltungen entfalten kann.
Darüber hinaus machen diese Erwägungen des Senats die
vorangegangenen Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der Ermächtigung zur
Einrichtung von Gefahrengebieten noch unter einem anderen Aspekt überflüssig: Die
Erörterungen zur Geeignetheit der Kontrollen betreffen letztlich nicht nur die
Verhältnismäßigkeit der Überprüfung der Klägerin im Einzelfall, sondern gerade
die Geeignetheit der Norm für den abstrakt verfolgten Zweck und damit letztlich
(wiederum) deren Verfassungsmäßigkeit. Ob demgegenüber die Bestimmtheit der
Regelung – wie das OVG meint – zu verneinen ist, erscheint zweifelhaft, mag
indes dahingestellt bleiben: Folgt man dem Gedankengang des OVG zur Ungeeignetheit
der Kontrolle zur Gefahrenabwehr, so ist eine solche Maßnahme letztlich in
jedem Einzelfall zwangsläufig rechtswidrig. Dies muss aber auf die
Zulässigkeit der Einrichtung von Gefahrengebieten zurückwirken, da diese
Maßnahme nicht zu weitergehenden Eingriffen berechtigt, so dass etwa die
Stellungnahme der Deutschen Polizeigewerkschaft zu der Entscheidung in besonders
bemerkenswerter Weise neben der Sache liegt. Fehlt es danach aber der Regelung
generell an der Geeignetheit zur Gefahrenabwehr, so ist folglich die
Verfassungsmäßigkeit der zur Einrichtung von Gefahrengebieten ermächtigenden Norm
entscheidungserheblich, so dass ein Vorlagebeschluss erforderlich gewesen wäre.