In der Diskussion um die Abhörpraxis
US-amerikanischer Regierungsstellen auch gegenüber Bürgern und Einrichtungen
anderer Staaten (sowie suprastaatlicher Organisationen) hat sich der
Bundesinnenminister heute auf das Parkett des Verfassungsrechts gewagt: Zur
Rechtfertigung dieser Praxis verwies er nicht nur auf Sicherheitsbedürfnisse,
vielmehr erklärte er „Sicherheit“ sogleich zum „Supergrundrecht". Man
könnte diese Äußerung als verfassungsrechtlichen „Ausrutscher“ sogleich wieder ad
acta legen, bestünde nicht Anlass zu der Annahme, dass hier mit Bedacht eine
verfassungsrechtliche Argumentation bemüht (genauer: versucht) worden ist. Der
Bundesinnenminister reiht sich ein in verschiedene Bemühungen namentlich konservativen
Staatsdenkens, mit denen ein "Grundrecht auf Sicherheit" (J. Isensee, 1983)
postuliert wurde.
Dem ist entschieden zu widersprechen, denn diese
Position rüttelt an den Grundlagen des Verfassungsstaates: „Sicherheit"
ist eine klassische Staatsaufgabe, die zu den ursprünglichen Staatszwecken
zählt und zu deren Erfüllung das staatliche Gewaltmonopol existiert, dessen
Verfolgung durch gesetzliche Regelungen und Inanspruchnahme des Gewaltmonopols
aber gerade an den Grundrechten des Einzelnen zu messen ist und damit stets den
Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügen muss. Postuliert man demgegenüber
ein „Supergrundrecht" auf Sicherheit, stehen Grundrechte nicht mehr als „Gegengewicht"
gegen die Inanspruchnahme staatlicher Macht zur Verfügung. In Rede stünde vielmehr
eine „Grundrechtskollision", weil unterschiedliche Grundrechtspositionen
gegeneinander abzuwägen wären. Welchem Grundrecht der Vorzug zu geben wäre,
wenn ein „Supergrundrecht" bemüht wird, bedarf dann aber keiner Diskussion
mehr. Folgerichtig wären auch nur mögliche, angenommene oder befürchtete
Gefährdungslagen geeignet, beliebige Grundrechtseinschränkungen zu
rechtfertigen.
Die Erklärung eines Staatszwecks zum „Supergrundrecht“
ist deshalb keine verfassungsrechtliche Kleinigkeit, bei der man sich darauf
beschränken könnte, sie zum Gegenstand der Diskussion auf Tagungen im
akademischen Elfenbeinturm zu machen. Sie markiert vielmehr die Grenze zwischen
Rechtsstaat und Obrigkeitsstaat. Zu Recht hat die Bundesjustizministerinheute hervorgehoben, dass die Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes ins Leere liefen
und nicht zuletzt der Kernbereich privater Lebensgestaltung schutzlos würde, gäbe
es tatsächlich ein verfassungsrechtlich begründetes Grundrecht auf Sicherheit: Die
dienende Funktion der Sicherheitspolitik, die den Bürgern die größtmögliche
Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Freiheiten garantieren sollte, würde hierdurch
umgekehrt.
Wer Staatszwecke zu (Super-) Grundrechten (v)erklärt, offenbart
daher letztlich eine dem Verfassungsstaat abgewandte Grundhaltung. Ein solcher
Minister ist im Grunde nicht tragbar.