Seit
dem Vertrag von Lissabon sieht Art. 11 EUV ein direktdemokratisches Verfahren vor,
mit dem die EU-Kommission durch die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten aufgefordert werden
kann, sich mit einer bestimmten europapolitischen Frage zu befassen, zu der ein
Rechtsakt der Union für erforderlich gehalten wird. Hierfür erforderlich sind
eine Million Unterschriften von EU-Bürgern aus mindestens einem Viertel der
Mitgliedstaaten (Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 28 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 7 VO [EU]
211/11 v. 16.02.2011); eine hohe Hürde angesichts der eher überschaubaren
Auswirkungen einer erfolgreichen Initiative. Gleichwohl versucht die
Kommission, den Anwendungsbereich dieser Regelungen so restriktiv wie möglich
zu handhaben; Einmischungen der Bürger in europäische Angelegenheiten sind
offenbar unerwünscht. So lehnte die Kommission im Jahre 2014 die erforderliche Registrierung
einer Europäischen Bürgerinitiative ab, die sich gegen die Verhandlungen über die
transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP (USA) und CETA (Kanada) wendete. Die
sehr vordergründig argumentierende Begründung: Nach Art. 11 EUV könne eine Initiative
nur auf Vorschläge
zielen, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts
der Union bedürfe, um die Verträge umzusetzen. Die Bürgerinitiative wende sich
aber gegen das Verhandlungsmandat für die Freihandelsabkommen, das der
Kommission vom Rat erteilt worden war, so dass es gerade nicht um einen Rechtsakt
gehe, der auf Veränderungen des Unionsrechts ziele. Desgleichen sei auch eine
Initiative unzulässig, die sich gegen den Abschluss des Freihandelsabkommens
wende. Kurz: Ein „kassatorisches“ Begehren gegen das Wirken der Kommission soll
generell nicht möglich sein.
Hiergegen wendete sich der die Initiative tragende Bürgerausschuss
(Art. 3 Abs. 2 VO [EU] 211/11 v. 16.02.2011) mit einer Anrufung des Gerichts der Europäischen Union
(EuG) u.a. durch Michael Efler, einen der Initiatoren der direktdemokratischen Elemente
des EU-Vertrages und des Bürgerbegehrens sowie seit kurzem für „Die Linke“ Mitglied
des Berliner Abgeordnetenhauses.
Mit
Urteil vom heutigen Tage hat das Gericht den angegriffenen Beschluss der
Kommission für nichtig erklärt (T-754/14). Die Begründung gerät zu einer
demokratietheoretischen Lehrstunde für die Kommission:
Das
Gericht wendet sich zunächst gegen ein enges Verständnis des Begriffs des
Rechtsakts im Sinne von Art. 11 Abs. 4 EUV, namentlich eine Beschränkung auf
endgültige Rechtsakte (Rn. 35 ff.), weil die Ziele der Vorschriften über die
Europäische Bürgerinitiative dem entgegenstünden: Der Grundsatz der Demokratie als
einer der grundlegenden Werte der Union und das Ziel einer Verbesserung ihrer demokratischen Funktionsweise durch Schaffung
eines Rechts der Bürger auf „Beteiligung am
demokratischen Leben“ machten es vielmehr erforderlich, in den Begriff des
Rechtsakts auch Beschlüsse zur Aufnahme von Verhandlungen über internationale
Übereinkünfte einzubeziehen, die auf eine Änderung der Rechtsordnung der Union zielten
(Rn. 37). Folgerichtig wird auch der befremdliche Einwand der Kommission
zurückgewiesen, die angestrebten Maßnahmen – namentlich die Nichtunterzeichnung
der transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA – seien „destruktive“
Rechtsakte, die nicht der Umsetzung der Verträge dienten. Der „Umsetzung der
Verträge“ dienten vielmehr auch Rechtsakte, „die die Verhinderung des
Abschlusses von TTIP und CETA zum Gegenstand haben, mit denen die Rechtsordnung
der Union geändert werden soll“ (Rn. 41). Es gebe keinen Grund, Rechtsakte von
einer demokratischen Debatte auszuschließen, die auf die Verhinderung einer Änderung
des Unionsrechts zielten (Rn. 42).
Mit deutlichen Worten wendet sich das Gericht ferner gegen die
Ansicht der Kommission, eine Zulassung der Initiative führe „zu einer nicht
hinnehmbaren Einmischung in den Ablauf eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens“:
Das mit der Europäischen Bürgerinitiative verfolgte Ziel bestehe gerade darin, den
Unionsbürgern verstärkte Mitwirkungsrechte einzuräumen und damit eine „demokratische
Debatte“ zu ermöglichen, „ohne den Erlass des Rechtsakts abwarten zu müssen,
dessen Änderung oder Aufgabe letztlich angestrebt wird“ (Rn. 45). Die geplante
Bürgerinitiative, die von einer Einmischung in den Gang eines laufenden
Rechtssetzungsverfahrens weit entfernt sei, sei Ausdruck der wirksamen
Beteiligung der Unionsbürger am demokratischen Leben der Union und stelle daher
auch das von den Verträgen gewollte institutionelle Gleichgewicht nicht in
Frage (Rn. 47)
Diese teleologischen Erwägungen des Gerichts sind ebenso schlicht
wie schlagend: Wenn das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative auf
stärkere Partizipation der Bürger in Angelegenheiten der Union gerichtet ist, dient
ein Rechtsakt auch dann der Umsetzung der Verträge, wenn er nicht auf Veränderungen
des Unionsrechts, sondern auf die Verhinderung nachteiliger Veränderungen abzielt.
Desgleichen verfehlt ist eine gekünstelte Unterscheidung zwischen vorläufigen
und endgültigen Rechtsakten. Dies gilt erst recht bei Angelegenheiten, die
Verträge zum Gegenstand haben, weil der endgültige Rechtsakt den Vertrag in
Kraft setzt und dann gar nicht mehr verhindert werden kann.
Demgegenüber kann
das (Selbst-) Verständnis der Kommission mit Blick auf Bürgerbeteiligung nur
verwundern. Wer Partizipation der Bürger als „Einmischung“ begreift, hat
grundlegende Charakteristika eines demokratischen Systems nicht verstanden und
muss sich über eine Ablehnung der europäischen Institutionen in ihrer
gegenwärtigen Form nicht wundern; das wiederum stärkt Nationalisten und Populisten.