JuraBlogs - Die Welt juristischer Blogs

Freitag, 29. November 2013

Basisdemokratischer Mitgliederentscheid versus freies Mandat?

Die Entscheidung der SPD, die Parteimitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen zu lassen, ist ein in der (Verfassungs-) Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang einmaliger Vorgang. Sofern sich Ereignisse im politischen Prozess erstmals ereignen, findet sich auch regelmäßig jemand, der mahnend den verfassungsrechtlichen Zeigefinger erhebt. Dies hat diesmal der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart getan, der einen Mitgliederentscheid über die Koalitionsvereinbarung für verfassungsrechtlich nicht legitim“ hält, weil ein solcher Vorgang trotz fehlender Verbindlichkeit den von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich ausgeschlossenen „Aufträgen und Weisungen“ an Abgeordneten nahe komme. Vermutlich wäre dieser – bislang vereinzelte – Einwand nicht einmal weiter aufgefallen, wenn sich nicht SPD-Chef Gabriel in einer Nachrichtensendung mit der Moderatorin über diese Frage duelliert hätte; Gabriel tat derartige Bedenken schlichtweg als „Blödsinn“ ab.
„Blödsinn“ sind die Einwände gegen einen Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag indes nicht. Zunächst offenbarte der Streit allerdings nur mäßige Kenntnisse über die verfassungsrechtlichen Determinanten der Regierungsbildung auf beiden Seiten: Neben der Sache lag insbesondere der Versuch der Moderatorin, das Demokratieprinzip gegen den Mitgliederentscheid wenden zu wollen, indem sie darauf verwies, dass die Staatsgewalt vom Volke, nicht aber von den SPD-Mitgliedern ausgehe: Das Volk kann durch Wahlen nur über die Zusammensetzung des Bundestages (mit-) entscheiden (ein weiteres Mitentscheidungsrecht nimmt der Bundestag als Gesetzgeber mit der 5 %-Sperrklausel für sich in Anspruch), am Prozess der Regierungsbildung ist es aber nicht beteiligt. Ebenso wenig ist der Einwand des SPD-Vorsitzenden von verfassungsrechtlicher Relevanz, dass in anderen Parteien statt eines Mitgliederentscheids ein Vorstandsbeschluss über den Koalitionsvertrag erfolge.
Das entscheidende Problem liegt vielmehr woanders: Ein einzelner Abgeordneter ist zwar bei seinen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Regierungsbildung kraft Verfassungsrechts an Entscheidungen anderer Stelle – auch der Parteibasis – nicht gebunden (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Auch gibt das „freie Mandat“ keinen Anspruch darauf, von Meinungsbekundungen, Vorschlägen und Empfehlungen zur Mandatsausübung verschont zu bleiben. Ein Abgeordneter ist ständig Einflussnahmen und Wünschen seiner Partei und ihrer Mitglieder sowie seiner Fraktion oder auch der Wähler ausgesetzt. Es gehört gerade zu den Rahmenbedingungen der Mandatsausübung, bei der Entscheidung über das (Stimm-) Verhalten zu entscheiden, ob diesbezügliche Wünsche und Vor­stellungen der Partei oder Fraktion außer Betracht gelassen – und die etwaigen Konsequenzen einer solchen Ent­scheidung getragen – werden. Die offene verfassungsrechtliche Frage ist aber, wo die Grenzen derartiger Vorgaben verlaufen. So hat der Niedersächsische Staatsgerichtshof in einer – mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen – Entscheidung vom 5. Juni 1985 (StGH 3/84 = StGHE 3, 42 ff.) die vormalige „Rotation“ von Abgeordneten der Grünen zur Hälfte der Wahlperiode für verfassungswidrig erklärt. Dabei ging es zwar um einen anderen Sachzusammenhang, weil verfassungsrechtlich eine bestimmte Dauer der Wahlperiode vorgegeben ist und diese Regelung nach Auffassung des Staatsgerichtshofs durch die „Rotation“ unterlaufen werde (STGHE 3, 42 [61]). Eine strukturelle Parallele besteht aber insofern, als Partei und Fraktion den gewählten Abgeordneten das Mandat nicht entziehen können, so dass auch im Falle der „Rotation“ letztlich eine „freiwillige“ Unterwerfung unter rechtliche unverbindliche Wünsche, Beschlüsse und Entscheidungen der Partei vorlag, die der Niedersächsische Staatsgerichtshof gleichwohl als unzulässig ansah. Daran anknüpfend ist noch in neuerer Zeit die freiwillige Demission von Mitgliedern kommunaler Vertretungskörperschaften zwecks Herbeiführung von Neuwahlen als unzulässig angesehen worden. (VG Osnabrück, Urteil vom 30.08.2005, 1 A 335/05).

Man muss dies nicht für richtig halten. Gleichwohl erscheint die Frage als legitim, in welchem Umfang auch (nur) empfehlende Vorgaben von Partei und Fraktion für die Mandatsausübung möglich sind. Im Falle der „Rotation“ hatte der Landtag die Feststellung des Mandatsverzicht der betreffenden Abgeordneten auch mit der Erwägung abgelehnt, dass ein Abgeordneter, der gegen die repräsentative parlamentarische Demokratie gerichtete Gedanken der Rätedemokratie, der Basisdemokratie oder des imperativen Mandats durchsetzen wolle, das Prinzip der repräsentativen Demokratie angreife und damit die verfassungsmäßigen Schranken überschreite, die ihm durch das Prinzip der wertgebundenen Demokratie gesetzt seien (zitiert nach STGHE 3, 42 [49]). Auf Basis einer solchen Argumentation wäre aber fraglich, ob die Basis einer Partei über einen Koalitionsvertrag soll entscheiden dürfen. Jedenfalls bleibt ein grundsätzliches Problem: Zwar kann ein Abgeordneter einer Weisungsgewalt seiner Parteibasis nicht unterworfen werden, weil er an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), derartige Vorgaben daher notwendig unverbindlich sind. Die verfassungsrechtlich vorgegebene Unwirksamkeit von Aufträgen und Weisungen kann aber nicht unbegrenzt zulassen, treuherzig Aufträge und Weisungen unter Hinweis auf deren Unverbindlichkeit zu erteilen. Die Problematik eines Mitgliederentscheids der Parteibasis liegt dabei in dem Umstand, dass sich diesem Votum kaum ein Abgeordneter wird entziehen können. Es ist daher zweifelhaft, ob sich verfassungsrechtliche Einwände gegen den basisdemokratischen Mitgliederentscheid schon durch einen Hinweis darauf erledigen lassen, dass Wünsche und Empfehlungen der Partei unbeschadet ihrer notwendigen Unverbindlichkeit zu den von einem Abgeordneten hinzunehmenden Rahmenbedingungen der Mandatsausübung gehören. Leider wird das Bundesverfassungsgericht auch aus Anlass des SPD-Mitgliederentscheids wohl keine Gelegenheit haben, die notwendigen Konkretisierungen zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vorzunehmen.