Es könnte alles
so schön sein: "Lia ist sieben Jahre alt, spielt gerne Gesellschaftsspiele,
fährt Kettcar, tobt auf dem Spielplatz und besucht die erste Klasse...“, so beginnt
ein Artikel in der „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ (Online entgeltpflichtig) vom 25. April über ein
Kind aus Lingen, das aufgrund einer Behinderung nachmittags während der Zeit
der Berufstätigkeit der Eltern einer zusätzlichen Betreuung bedarf. Aber
leider: Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Denn an den Kosten der
nachträglichen Betreuung am Nachmittag werden die Eltern von der Stadt Lingen in
Form eines Betreuungsbeitrags beteiligt; einen dagegen gerichteten Widerspruch hat der Landkreis Emsland zurückgewiesen. Damit zieht die (Kreis-) Verwaltung
nun Unmut auf sich: Entgegen der Empfehlung des Landes, der Praxis in der Region
Hannover und den Wünschen des Rates der Stadt Lingen in einer kürzlich gefassten Resolution bleibe der Landkreis hart und berufe sich – unerhört –
auch noch auf das Gesetz.
Dies allerdings zu Recht: Nach § 87 Abs.
1 Satz 1 SGB XII ist
die Aufbringung der Mittel für die Betreuung „in angemessenem Umfang
zuzumuten“, soweit das zu berücksichtigende Einkommen die Einkommensgrenze
übersteigt. Aus dieser Vorschrift resultiert eine grundsätzliche Pflicht zur
Heranziehung der Leistungsempfänger bzw. ihrer Eltern, wie in der
Rechtsprechung jedenfalls seit einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
zu der (Vorgänger-) Regelung in § 84 BSHG (Urt. v. 26.10.1989 – 5 C
30/86, Rn. 12) geklärt
und auch durch die zwischenzeitlich zuständig gewordenen Sozialgerichte bestätigt
worden ist. So meint das SG Fulda: „Andererseits darf nicht übersehen werden,
dass das Einkommen der Kläger die Einkommensgrenze ...
in nicht unerheblicher Weise überschreitet. Insbesondere dient die den Klägern
gewährte Unterstützung ... auch dazu, ... eine Teilzeitbeschäftigung zu
ermöglichen. Es wäre mit dem in § 87 Abs. 1 SGB XII auch zum Tragen kommenden
Nachranggrundsatz der Sozialhilfe kaum vereinbar, einer einsatzpflichtigen
Person die Erwirtschaftung finanzieller Vorteile zu ermöglichen, die damit
verbundenen Kosten aber ganz überwiegend auf die Allgemeinheit abzuwälzen“
(Gerichtsbescheid v. 10.07.2012 – S 7 SO 51/11, Rn. 38).
Eine allgemeine Freistellung von den Mehraufwendungen aufgrund eines
besonderen Betreuungsaufwands ist daher nach dem gegenwärtig geltenden Recht nicht
möglich. Davon
unabhängig kann man mit guten Gründen die Position einnehmen, dass diese Regelung mittlerweile unzeitgemäß ist und Eltern
behinderter Kinder nicht zusätzlich und stärker als Eltern nichtbehinderter
Kinder belastet werden sollen – die Mehraufwendungen also vom Steuerzahler zu
tragen sind. Das aber ist eine rechtspolitische Forderung, die gerade nicht den
gegenwärtigen Vorgaben des SGB XII entspricht. Solange der Gesetzgeber einer
solchen Forderung nicht nachkommt, ist es den kommunalen Gebietskörperschaften unter
Geltung des Grundsatzes der Gewaltenteilung jedoch nicht gestattet, gleichsam aus
eigener Machtvollkommenheit eine davon abweichende Rechtspraxis zu etablieren.
Auch ein aus § 87 SGB in Bezug auf den „angemessenen Umfang“ des
Mitteleinsatzes resultierendes Ermessen ermöglicht nicht, die Heranziehung
stets als unangemessen zu qualifizieren, zumal der Gesetzgeber bei Fällen
schwerster Behinderungen einen Einsatz von maximal 40 Prozent des
Einkommensüberhangs immer noch als grundsätzlich zulässig ansieht (vgl. § 87
Abs. 1 Satz 3 SGB XII).
Umso bemerkenswerter
ist, dass das Land Niedersachsen in Übereinstimmung mit der Landesbeauftragten
für Menschen mit Behinderung die Praxis der Region Hannover preist, Eltern
grundsätzlich nicht zu den (zusätzlichen) Kosten der Betreuung behinderter
Kinder heranzuziehen. Von Landesbehörden und -bediensteten wäre indes zu
erwarten, dass sie die Rechtsgebundenheit der Verwaltung im gewaltenteiligen
Staat respektieren und nicht im Interesse eines gewünschten Ergebnisses zu
seiner Missachtung auffordern. Auch wenn man eine gesetzgeberische Entscheidung
für falsch hält, ist es nicht angängig, dass sich eine gesetzesgebundene
Verwaltung hierüber einfach hinwegsetzt. Erst recht kann dies von der Verwaltung
nicht ernsthaft verlangt werden.
Nachtrag: Abwegig ist
daher auch die nunmehr von den Grünen in polemischer Form erhobene Forderung, der Landkreis solle seine Entscheidung korrigieren. Sinnvoll wäre es, wenn
Abgeordnete sich ein Minimum an Sachkenntnis aneignen würden, bevor
populistische Forderungen erheben werden. Im Übrigen hätten die in mehreren
Bundesländern (mit-) regierenden Grünen die Möglichkeit gehabt, im Rahmen der
Beratungen über das Bundesteilhabegesetz auf eine Änderung der gesetzlichen
Regelungen hinzuwirken. Das dies der Fall gewesen wäre, ist nicht überliefert.