In mehreren Organstreitverfahren, die von kleineren Piraten
wie (u.a.) der Piratenpartei und der Partei „Die Linke“ initiiert worden waren,
hat der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen gestern eine Verletzung der
Wahlrechtsgleichheit zu Lasten der antragstellenden Parteien durch die im
Sommer 2016 in die Landesverfassung eingefügte 2,5 %-Sperrklausel für die Wahl
der Räte und Kreistage (Art. 78 Abs. 1 Satz 3 LV NW) festgestellt (Urteile v. 21.11.2017 – VerfGH 9/16 u.a.). Gescheitert ist damit der Versuch von CDU, SPD
und Grüne, sich mit verfassungsändernder Mehrheit eine „Prämie auf die Macht“ unmittelbar
durch die Verankerung der Sperrklausel in der Landesverfassung zu verschaffen.
Sperrklauseln
stellen besondere Anforderungen an ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung,
weil sie an der Wahlrechtsgleichheit zu messen sind, die streng und formal zu handhaben
ist und deshalb nur einen eng bemessenen Spielraum für Differenzierungen belässt.
Nachdem der Verfassungsgerichtshof im Jahre 1999 die seinerzeitige 5
%-Sperrklausel bei Kommunalwahlen nicht hatte passieren lassen, sollten die verfassungsrechtlichen
Schwierigkeiten, die mit einer solchen Regelung einhergehen, jetzt ersichtlich
dadurch bewältigt werden, dass die Sperrklausel unmittelbar in der Verfassung
und damit auf der gleichen Ebene wie der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verankert
wird.
Dem ist der Verfassungsgerichtshof entgegengetreten, indem
er einen unterschiedlichen Rang verschiedener Vorschriften der Landesverfassung
postuliert hat. Zentrale Bedeutung hat dabei Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV, dem
zufolge Änderungen
der Verfassung, die den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und
sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland widersprechen, unzulässig sind.
Allerdings kommt der Vorschrift im Verständnis des Verfassungsgerichtshofs zunächst
nur die Funktion zu, als landesverfassungsrechtliche Bestimmung die Prüfbarkeit
der Vereinbarkeit einer Verfassungsänderung
mit dem Grundgesetz durch das Landesverfassungsgericht zu eröffnen, da
der Gesetzgeber der Landesverfassung an die genannten Grundsätze ohnehin schon
gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gebunden ist. Zu diesen Grundsätzen zählt der Verfassungsgerichtshof
auch die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, die ihrerseits das
demokratische Prinzip aus Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG ausgestalteten.
Das ist verfassungsrechtsdogmatisch
weder neu noch sensationell und mündet daher in eine Konsequenz, die
voraussehbar war: Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes gelten auch für Einwirkungen
auf das Wahlrecht, die durch Änderungen des (Landes-) Verfassungsrechts erfolgen.
Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Länderebene sind daher über Art. 69
Abs. 1 Satz 2 LV am (bundes-) verfassungsrechtlichen Grundsatz der
Wahlrechtsgleichheit zu messen.
Der nächste Schritt ist damit vorgezeichnet: Vor dem
Hintergrund des hohen Rangs der Wahlrechtsgleichheit könne der schwerwiegende Eingriff
durch eine Sperrklausel nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „nicht
schon unter Aspekten der Vorsorge gegen Gefahren für die Funktionsfähigkeit“ einer
Vertretung gerechtfertigt werden, sondern nur bei konkret absehbaren Funktionsstörungen.
Bloße Erschwerungen der Meinungsbildung in einer Vertretung durch das Vorhandensein
der Vertreter kleiner Parteien seien als notwendige Folge demokratischer Debatte
hinzunehmen.
Auf dieser
Grundlage resultiert sodann das Ergebnis mit jener Zwangsläufigkeit, mit der ein
Artikel nach erfolgtem Münzeinwurf aus dem Ausgabeschacht eines Warenautomaten fällt:
Ein hinreichend zwingender Grund für eine Sperrklausel ist im
Gesetzgebungsverfahren nicht dargelegt worden; eine möglicherweise gesteigerte
Komplexität der Mehrheits- und Meinungsbildung reicht für die Annahme einer
Funktionsstörung nicht aus. In diesem Zusammenhang ist dem Verfassungsgerichtshof
besonders für den Satz zu danken, dass es entgegen einer verbreiteten
Fehlvorstellung nicht Aufgabe der Wahlgesetzgebung sei, „die Bandbreite des
politischen Meinungsspektrums zu reduzieren“.
Der Verfassungsgerichtshof
thematisiert ferner die Gefahr, dass parlamentarische – auch verfassungsändernde
– Mehrheiten diese missbrauchen, um das Wahlrecht im Eigeninteresse zu gestalten,
und folgert hieraus mit dem Bundesverfassungsgericht auf die Erforderlichkeit
einer strikten Kontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Er weist nach,
dass das Bundesverfassungsgericht hier in seiner jüngeren Rechtsprechung im Vergleich
zu einer früher eher nachsichtigen Judikatur die Kontrollmaßstäbe mittlerweile deutlich
verschärft hat. Dass dies geboten ist, macht gerade der vorliegende Fall
deutlich, haben hier doch die größten Fraktionen im nordrhein-westfälischen
Landtag versucht, mit verfassungsändernder Mehrheit die kleineren Parteien von
einer Mitwirkung in Räten und Kreistagen demokratiewidrig auszuschließen.