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Mittwoch, 22. November 2017

Verfassungswidriges Verfassungsrecht in NRW

In mehreren Organstreitverfahren, die von kleineren Piraten wie (u.a.) der Piratenpartei und der Partei „Die Linke“ initiiert worden waren, hat der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen gestern eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit zu Lasten der antragstellenden Parteien durch die im Sommer 2016 in die Landesverfassung eingefügte 2,5 %-Sperrklausel für die Wahl der Räte und Kreistage (Art. 78 Abs. 1 Satz 3 LV NW) festgestellt (Urteile v. 21.11.2017 – VerfGH 9/16 u.a.). Gescheitert ist damit der Versuch von CDU, SPD und Grüne, sich mit verfassungsändernder Mehrheit eine „Prämie auf die Macht“ unmittelbar durch die Verankerung der Sperrklausel in der Landesverfassung zu verschaffen. 

Sperrklauseln stellen besondere Anforderungen an ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung, weil sie an der Wahlrechtsgleichheit zu messen sind, die streng und formal zu handhaben ist und deshalb nur einen eng bemessenen Spielraum für Differenzierungen belässt. Nachdem der Verfassungsgerichtshof im Jahre 1999 die seinerzeitige 5 %-Sperrklausel bei Kommunalwahlen nicht hatte passieren lassen, sollten die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, die mit einer solchen Regelung einhergehen, jetzt ersichtlich dadurch bewältigt werden, dass die Sperrklausel unmittelbar in der Verfassung und damit auf der gleichen Ebene wie der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verankert wird.

Dem ist der Verfassungsgerichtshof entgegengetreten, indem er einen unterschiedlichen Rang verschiedener Vorschriften der Landesverfassung postuliert hat. Zentrale Bedeutung hat dabei Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV, dem zufolge Änderungen der Verfassung, die den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland widersprechen, unzulässig sind.

Allerdings kommt der Vorschrift im Verständnis des Verfassungsgerichtshofs zunächst nur die Funktion zu, als landesverfassungsrechtliche Bestimmung die Prüfbarkeit der Vereinbarkeit einer Verfassungsänderung  mit dem Grundgesetz durch das Landesverfassungsgericht zu eröffnen, da der Gesetzgeber der Landesverfassung an die genannten Grundsätze ohnehin schon gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gebunden ist. Zu diesen Grundsätzen zählt der Verfassungsgerichtshof auch die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, die ihrerseits das demokratische Prinzip aus Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG ausgestalteten. 

Das ist verfassungsrechtsdogmatisch weder neu noch sensationell und mündet daher in eine Konsequenz, die voraussehbar war: Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes gelten auch für Einwirkungen auf das Wahlrecht, die durch Änderungen des (Landes-) Verfassungsrechts erfolgen. Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Länderebene sind daher über Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV am (bundes-) verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit zu messen.

Der nächste Schritt ist damit vorgezeichnet: Vor dem Hintergrund des hohen Rangs der Wahlrechtsgleichheit könne der schwerwiegende Eingriff durch eine Sperrklausel nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „nicht schon unter Aspekten der Vorsorge gegen Gefahren für die Funktionsfähigkeit“ einer Vertretung gerechtfertigt werden, sondern nur bei konkret absehbaren Funktionsstörungen. Bloße Erschwerungen der Meinungsbildung in einer Vertretung durch das Vorhandensein der Vertreter kleiner Parteien seien als notwendige Folge demokratischer Debatte hinzunehmen.

Auf dieser Grundlage resultiert sodann das Ergebnis mit jener Zwangsläufigkeit, mit der ein Artikel nach erfolgtem Münzeinwurf aus dem Ausgabeschacht eines Warenautomaten fällt: Ein hinreichend zwingender Grund für eine Sperrklausel ist im Gesetzgebungsverfahren nicht dargelegt worden; eine möglicherweise gesteigerte Komplexität der Mehrheits- und Meinungsbildung reicht für die Annahme einer Funktionsstörung nicht aus. In diesem Zusammenhang ist dem Verfassungsgerichtshof besonders für den Satz zu danken, dass es entgegen einer verbreiteten Fehlvorstellung nicht Aufgabe der Wahlgesetzgebung sei, „die Bandbreite des politischen Meinungsspektrums zu reduzieren“.

Der Verfassungsgerichtshof thematisiert ferner die Gefahr, dass parlamentarische – auch verfassungsändernde – Mehrheiten diese missbrauchen, um das Wahlrecht im Eigeninteresse zu gestalten, und folgert hieraus mit dem Bundesverfassungsgericht auf die Erforderlichkeit einer strikten Kontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Er weist nach, dass das Bundesverfassungsgericht hier in seiner jüngeren Rechtsprechung im Vergleich zu einer früher eher nachsichtigen Judikatur die Kontrollmaßstäbe mittlerweile deutlich verschärft hat. Dass dies geboten ist, macht gerade der vorliegende Fall deutlich, haben hier doch die größten Fraktionen im nordrhein-westfälischen Landtag versucht, mit verfassungsändernder Mehrheit die kleineren Parteien von einer Mitwirkung in Räten und Kreistagen demokratiewidrig auszuschließen.