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Freitag, 24. Februar 2017

Strafnorm aufgehoben – Freispruch nach 11 Jahren

Es gibt Ereignisse, die sind so singulär, dass man sich fragt, ob es sie überhaupt schon gegeben hat. Dazu gehört die jetzt erfolgte Beendigung eines acht Jahre währenden Strafverfahrens mit einem Freispruch, der auf einem Fortfall der Strafbarkeit beruht.

Zum Hintergrund: Im Jahre 2009 wurde im Anschluss an einen verwaltungsrechtlichen Vorgang aus dem Jahre 2006 ausnahmsweise wegen eines daran anknüpfenden Strafvorwurfs eine Strafverteidigung übernommen. Der Tatvorwurf lautete auf einen Verstoß gegen die Chemikalien-Verbots-Verordnung. 2011 wurde die Angelegenheit erstinstanzlich vor einem norddeutschen Amtsgericht mit zahlreichen Zeugen und Sachverständigen in insgesamt rund einem Dutzend Terminen verhandelt. 2012 folgte ein Berufungsverfahren, erneut mit zahlreichen Zeugen und Sachverständigen, das mit einem teilweisen Freispruch und einer teilweisen Verurteilung endete. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten kam es 2013 nach Anhörung von Sachverständigen durch das OLG zur Aufhebung und Rückverweisung, an die 2014 eine Wiederholung der Berufungsverhandlung anschloss. Auf die Revision diesmal nur des Angeklagten ist auch das zweite Berufungsurteil Ende 2014 aufgehoben und die Sache erneut zurückverwiesen worden.

Im Rahmen der bislang insgesamt fünf Durchgänge war der Tatvorwurf bereits auf einen Vorgang von untergeordneter Bedeutung zusammengeschmolzen. Umgekehrt hatten sich die Rechtsfragen eher vergrößert. So war im Verfahren die Verfassungsmäßigkeit der Verweisungen in der Strafnorm (§ 27 ChemG) auf eine Rechtsverordnung, die ihrerseits EU-Recht in Bezug nimmt, thematisiert worden, ohne dass die Gerichte dem besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätten; insoweit wären etwaige Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Rindfleischetikettierungsgesetz vom 3. November 2016 (2 BvL 1/15) im dritten Berufungsdurchgang zu thematisieren gewesen; daneben stand eine komplexe Irrtumsproblematik im Raum.

Anfang Februar 2017, 11 Jahre nach der angeblichen Tathandlung, kam es zu der erneuten Berufungsverhandlung. Am 27. Januar 2017 ist jedoch eine Neufassung der Chemikalien-Verbots-Verordnung vom 20. Januar 2017 (BGBl. I S. 94) in Kraft getreten. Anders als das bisherige Recht beschränkt sich die Neufassung im Wesentlichen auf einen (deklaratorischen) Verweis auf das EU-Recht; es werden nur noch wenige eigenständige Tatbestände in der Anlage 1 zur Chemikalien-Verbots-Verordnung aufgeführt, die hier nicht einschlägig sind.

Damit war die Strafbarkeit entfallen, denn der in Rede stehende Vorgang wird vom EU-Recht nicht erfasst; die bisherige Strafbarkeit beruhte auf einer über das EU-Recht hinausgehenden (und völlig überzogenen) Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen durch die vorangegangene Chemikalien-Verbots-Verordnung, die 2002 durch die rot-grüne Bundesregierung eingeführt worden war. Der Fortfall der Strafbarkeit für die Zukunft ist auch für die Vergangenheit beachtlich (§ 2 Abs. 3 StGB).

Nachdem Gericht und Staatsanwaltschaft auf die veränderte Rechtslage aufmerksam gemacht worden waren, war das Verfahren daher schnell zu Ende. Auf weitere Erörterungen und Beweisaufnahmen konnte verzichtet werden; Staatsanwaltschaft und Verteidigung beantragten übereinstimmend Freispruch, der antragsgemäß erfolgte. Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Ein nicht alltägliches Ende eines überlangen Verfahrens.